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- "Do you believe in Photographs" Fotografisches Zeigen und Erscheinen in Jerry Berndts Serie The Miraculous Photographs of Bayside (2022)
- Der US-amerikanische Fotograf und Fotojournalist Jerry Berndt (1943–2013) hat seit den frühen 1960er Jahren ein umfangreiches Werk hervorgebracht, das zeigt, wie konzeptuell-vielgestaltig das Dokumentarische in Erscheinung treten kann. Ungeachtet seiner immensen Produktivität, befindet sich Berndts Œuvre erst im Beginn einer wissenschaftlichen wie institutionellen Erschließung. Mein Promotionsprojekt erfüllt dieses Desiderat einer Aufarbeitung und entwickelt eine multiperspektivische Sicht auf das Werk des Fotografen. Gegenstand meiner Analyse ist die bisher unveröffentlichte Serie The Miraculous Photographs of Bayside (1980/81), die Berndt anlässlich des zehnten Jahrestages einer vermeintlichen Marienvision im New Yorker Stadtteil Queens begonnen hat. Die Anhängerschaft des Mediums Veronica Lueken, einer katholischen Hausfrau, von über tausend Gläubigen pilgerte in der Nacht des 18. Juni 1980 in den Flushing Meadows Corona Park und zelebrierte ein fotografisches Erscheinungsritual: Ihrem Glauben nach empfingen ihre Sofort-Bild-Kameras Nachrichten der Jungfrau Maria in Form von Lichtschrift auf den instantanen Bildern, den sogenannten Miraculous Photographs. Als Atheist trat Berndt aus medialem und anthropologischem Interesse an die Gemeinschaft der Baysider heran und produzierte ausgehend von mehr als einem Dutzend Besuchen ihrer Rituale über 100 Fotografien (Schwarzweiß-, Farbfotografien und mit Schrift kombinierte Fotomontagen), die er in verschiedene Formate übersetzte (Fotobuch, Reportage, Essay, Vortrag, Ausstellung und kollektive Reenactments). Anhand dieses medienübergreifenden Korpus’ diskutiert meine Dissertation grundlegende Handlungsstrategien und Werkkonzepte des Fotografen, bindet diese in sein Gesamtwerk sowie den fototheoretischen und historischen Kontext ein und konfrontiert sie mit der transzendenten Vorstellung vom Fotografischen (dem Medium, dem Sujet und der Gebrauchsweise) der Gläubigen. Während die katholischen AmateurfotografInnen die Kamera als Kommunikationsmittel mit einem göttlichen Jenseits gebrauchten und ihre Polaroids als Vera Ikon verehrten, nutzte Berndt in seiner Doppelrolle als Fotojournalist und Künstler die Fotografie zur Aufzeichnung und kritischen Reflexion des religiösen Phänomens und ihrer ProtagonistInnen. Somit fallen in seiner Serie konträre Botschaften, Gesten und deiktische Absichten ineinander und stellen die fotografische Beweiskraft zur Disposition. Die fotografische Sichtbarkeit von Berndts Bayside-Serie konstituiert sich aus einem Netz an AkteurInnen, Praktiken und Diskursen, das ich in meiner Dissertation sukzessive heraus- und gegeneinander stelle. In der Untersuchung dieser kulturellen und sozialen Gefüge kristallisiere ich eine Reihe von Bezügen zwischen dem Dispositiv der Sofort-Bild-Fotografie, deren Nutzung durch die Baysider und deren Transformation durch Berndt heraus. Als operatives Instrument dient mir insbesondere der Begriff des Gespenstischen , durch den sich zum einen die spiritistische Praxis der Gläubigen, ihre Evokation jenseitiger Phänomene mittels der Polaroidfotografie und deren rituelle Deutung fassen lässt, wie auch die inkongruenten Wahrnehmungsschritte, die die BetrachterInnen von Berndts Bayside-Fotografien durchlaufen. In den Miraculous Photographs artikuliert sich ein fotografisches Transzendenzversprechen, das sich für die Gläubigen mit jedem fotografischen Akt erneut erfüllte. Berndt hat das Spektrum ihrer rituellen Praktiken (beim Fotografieren, staunenden Betrachten, Zeigen, Beten und der Prozession) vielfach und facettenreich festgehalten und stellt damit die Sofort-Bild-Fotografie als Evidenz stiftende Quelle ihres Glaubens heraus. Seine Fotografien gewähren der körperlichen Deixis der Gläubigen immensen Entfaltungsraum und vermitteln den Kern ihrer Botschaft („Sieh das! Glaub das!“) unmittelbar an die BetrachterInnen. Doch in der Vehemenz, mit der der Fotograf jenes Transzendenzversprechen durch die Exponierung ihrer Gestik, Mimik und – in den Fotomontagen – auch durch die Textzugaben betont, stellt er ihren religiösen Glauben an die Fotografie zugleich zur kritischen Diskussion. Plurale Bilder, Zeiten, Räume und deiktische Intentionen lenken den Blick auf piktorale Leerstellen, Brüche und Widerhaken und erzeugen ein kontinuierliches Changieren materieller und imaginierter Un/Sicht-barkeiten. So unterwandert Berndt die Behauptung von fotografischer Transzendenz der Baysider nicht direkt, sondern integriert die BetrachterInnen als Konvergenzpunkt des Blickgefüges in die Bilddynamik und fordert sie zur gedanklichen Verhandlung der allgegenwärtigen Frage auf: „Do you Believe in Photographs?“ Das Gespenstische wird hier als ein heterogenes Bedeutungsspektrum verstanden, das von konkret wahrnehmbaren Phänomenen bis hin zu imaginären, diskursiven Figuren einer Gespenster- oder Geisterfotografie reicht. Das Zitat Berndts ist ein alternativer Titel der Bayside-Serie, den der Fotograf neben einer Reihe von weiteren Titeln in unserem Interview spontan entwarf. In der direkten Ansprache reflektiert sich das fotografische Transzendenzversprechen als Argument der Baysider, aber auch Berndts Bildstrategie, die die BetrachterInnen selbst zum Nachdenken über diese wesentliche Frage anregt, die das fotografische Bild seit seiner Erfindung aufwirft. Vgl. Jerry Berndt, in: Sarah Frost, ebd.: Interview with Jerry Berndt, Paris 2012, S. 256-273, in: Sarah Frost: “DO YOU BELIEVE IN PHOTOGRAPHS? – Fotografisches Zeigen und Erscheinen in Jerry Berndts Serie The Miraculous Photographs of Bayside”, Braunschweig 2022, S. 271.