"Do you believe in Photographs" Fotografisches Zeigen und Erscheinen in Jerry Berndts Serie The Miraculous Photographs of Bayside

Der US-amerikanische Fotograf und Fotojournalist Jerry Berndt (1943–2013) hat seit den frühen 1960er Jahren ein umfangreiches Werk hervorgebracht, das zeigt, wie konzeptuell-vielgestaltig das Dokumentarische in Erscheinung treten kann. Ungeachtet seiner immensen Produktivität, befindet sich Berndts Œuvre erst im Beginn einer wissenschaftlichen wie institutionellen Erschließung. Mein Promotionsprojekt erfüllt dieses Desiderat einer Aufarbeitung und entwickelt eine multiperspektivische Sicht auf das Werk des Fotografen. Gegenstand meiner Analyse ist die bisher unveröffentlichte Serie The Miraculous Photographs of Bayside (1980/81), die Berndt anlässlich des zehnten Jahrestages einer vermeintlichen Marienvision im New Yorker Stadtteil Queens begonnen hat. Die Anhängerschaft des Mediums Veronica Lueken, einer katholischen Hausfrau, von über tausend Gläubigen pilgerte in der Nacht des 18. Juni 1980 in den Flushing Meadows Corona Park und zelebrierte ein fotografisches Erscheinungsritual: Ihrem Glauben nach empfingen ihre Sofort-Bild-Kameras Nachrichten der Jungfrau Maria in Form von Lichtschrift auf den instantanen Bildern, den sogenannten Miraculous Photographs. Als Atheist trat Berndt aus medialem und anthropologischem Interesse an die Gemeinschaft der Baysider heran und produzierte ausgehend von mehr als einem Dutzend Besuchen ihrer Rituale über 100 Fotografien (Schwarzweiß-, Farbfotografien und mit Schrift kombinierte Fotomontagen), die er in verschiedene Formate übersetzte (Fotobuch, Reportage, Essay, Vortrag, Ausstellung und kollektive Reenactments). Anhand dieses medienübergreifenden Korpus’ diskutiert meine Dissertation grundlegende Handlungsstrategien und Werkkonzepte des Fotografen, bindet diese in sein Gesamtwerk sowie den fototheoretischen und historischen Kontext ein und konfrontiert sie mit der transzendenten Vorstellung vom Fotografischen (dem Medium, dem Sujet und der Gebrauchsweise) der Gläubigen. Während die katholischen AmateurfotografInnen die Kamera als Kommunikationsmittel mit einem göttlichen Jenseits gebrauchten und ihre Polaroids als Vera Ikon verehrten, nutzte Berndt in seiner Doppelrolle als Fotojournalist und Künstler die Fotografie zur Aufzeichnung und kritischen Reflexion des religiösen Phänomens und ihrer ProtagonistInnen. Somit fallen in seiner Serie konträre Botschaften, Gesten und deiktische Absichten ineinander und stellen die fotografische Beweiskraft zur Disposition. Die fotografische Sichtbarkeit von Berndts Bayside-Serie konstituiert sich aus einem Netz an AkteurInnen, Praktiken und Diskursen, das ich in meiner Dissertation sukzessive heraus- und gegeneinander stelle. In der Untersuchung dieser kulturellen und sozialen Gefüge kristallisiere ich eine Reihe von Bezügen zwischen dem Dispositiv der Sofort-Bild-Fotografie, deren Nutzung durch die Baysider und deren Transformation durch Berndt heraus. Als operatives Instrument dient mir insbesondere der Begriff des Gespenstischen , durch den sich zum einen die spiritistische Praxis der Gläubigen, ihre Evokation jenseitiger Phänomene mittels der Polaroidfotografie und deren rituelle Deutung fassen lässt, wie auch die inkongruenten Wahrnehmungsschritte, die die BetrachterInnen von Berndts Bayside-Fotografien durchlaufen. In den Miraculous Photographs artikuliert sich ein fotografisches Transzendenzversprechen, das sich für die Gläubigen mit jedem fotografischen Akt erneut erfüllte. Berndt hat das Spektrum ihrer rituellen Praktiken (beim Fotografieren, staunenden Betrachten, Zeigen, Beten und der Prozession) vielfach und facettenreich festgehalten und stellt damit die Sofort-Bild-Fotografie als Evidenz stiftende Quelle ihres Glaubens heraus. Seine Fotografien gewähren der körperlichen Deixis der Gläubigen immensen Entfaltungsraum und vermitteln den Kern ihrer Botschaft („Sieh das! Glaub das!“) unmittelbar an die BetrachterInnen. Doch in der Vehemenz, mit der der Fotograf jenes Transzendenzversprechen durch die Exponierung ihrer Gestik, Mimik und – in den Fotomontagen – auch durch die Textzugaben betont, stellt er ihren religiösen Glauben an die Fotografie zugleich zur kritischen Diskussion. Plurale Bilder, Zeiten, Räume und deiktische Intentionen lenken den Blick auf piktorale Leerstellen, Brüche und Widerhaken und erzeugen ein kontinuierliches Changieren materieller und imaginierter Un/Sicht-barkeiten. So unterwandert Berndt die Behauptung von fotografischer Transzendenz der Baysider nicht direkt, sondern integriert die BetrachterInnen als Konvergenzpunkt des Blickgefüges in die Bilddynamik und fordert sie zur gedanklichen Verhandlung der allgegenwärtigen Frage auf: „Do you Believe in Photographs?“ Das Gespenstische wird hier als ein heterogenes Bedeutungsspektrum verstanden, das von konkret wahrnehmbaren Phänomenen bis hin zu imaginären, diskursiven Figuren einer Gespenster- oder Geisterfotografie reicht. Das Zitat Berndts ist ein alternativer Titel der Bayside-Serie, den der Fotograf neben einer Reihe von weiteren Titeln in unserem Interview spontan entwarf. In der direkten Ansprache reflektiert sich das fotografische Transzendenzversprechen als Argument der Baysider, aber auch Berndts Bildstrategie, die die BetrachterInnen selbst zum Nachdenken über diese wesentliche Frage anregt, die das fotografische Bild seit seiner Erfindung aufwirft. Vgl. Jerry Berndt, in: Sarah Frost, ebd.: Interview with Jerry Berndt, Paris 2012, S. 256-273, in: Sarah Frost: “DO YOU BELIEVE IN PHOTOGRAPHS? – Fotografisches Zeigen und Erscheinen in Jerry Berndts Serie The Miraculous Photographs of Bayside”, Braunschweig 2022, S. 271.
Since the early 1960s, U.S. photographer and photojournalist Jerry Berndt (1943– 2013) produced an extensive body of work that demonstrates how conceptually varied documentary work can be. Despite his immense productivity, Berndt's oeuvre is only just beginning to be explored in academia and institutions. My doctoral project fulfils the desideratum for reappraisal and provides a multi-faceted look at the photographer's work. The subject of my analysis is the previously unpublished series The Miraculous Photographs of Bayside (1980/81), which Berndt began on the occasion of the tenth anniversary of an alleged vision of Mary in the New York borough of Queens. Over a thousand followers of the medium Veronica Lueken, a Catholic housewife, made a pilgrimage to Flushing Meadows Corona Park on the night of June 18, 1980, to celebrate a photographic apparition ritual: they believed that their instant cameras received messages from the Virgin Mary in the form of light writing on the instant images named Miraculous Photographs. As an atheist, Berndt approached the Bayside community out of medium-based and anthropological interest and produced more than 100 photographs (black-and-white, color photographs, and photomontages combined with writing) over more than a dozen visits to their rituals, which he then translated into various other formats (a photobook, a reportage, an essay, an exhibition, lectures and collective re-enactments). Using this cross-media corpus, my dissertation discusses the photographer’s fundamental strategies of action and work concepts, integrates them into his overall oeuvre as well as the photo-theoretical and historical context, and confronts them with the believers’ transcendent notion of photography (the medium, the subject, and the mode of use). While the amateur Catholic photographers used the camera as a means of communication with the divine beyond and revered their Polaroids as a vera icon, Berndt — in his dual role as photojournalist and artist — used photography to record and critically reflect on the religious phenomenon and its protagonists. Contrasting messages, gestures, and deictic intentions thus collapse into one another in his series, calling photographic evidentiality into question. Berndt's Bayside series visually constitutes a network of actors, practices, and discourses that I successively highlight and juxtapose in my dissertation. In examining these cultural and social structures, I crystallize a series of references between the dispositive of instant photography, its use by the Baysiders, and its transformation by Berndt. I use the concept of the spectral as an operative instrument, through which the spiritualist practice of the believers, their evocation of otherworldly phenomena by means of Polaroid photography and their ritual interpretation can be grasped, in addition to the incongruent steps of perception that viewers of Berndt's photographs go through. The Miraculous Photographs articulate a photographic promise of transcendence that was fulfilled for the faithful over and over again, with each photographic act. Berndt captured the spectrum of their ritual practices (photographing, gazing in wonder, displaying, praying, and procession) repeatedly and multi-variously, highlighting instant-image photography as the evidential source of their faith. His photographs allow the physical deixis of the faithful immense scope for development and convey the core of their message (“See this! Believe this!") directly to the viewer. The photographer puts their religious faith in photography up for critical discussion through the vehemence with which he emphasizes the promise of transcendence through the exposure of their gestures, facial expressions as well as through the addition of text in the photo-montages. Plural images, times, spaces, and deictic intentions direct the viewer’s gaze to pictorial voids, ruptures, and barbs, creating a continuous oscillation of photographic and imagined in/visibility. In this way, Berndt does not directly undermine the Baysiders’ assertion of photographic transcendence, but rather integrates viewers into the dynamic of the images, converging of the structure of the gaze. His series The Miraculous Photographs of Bayside invite them to thoughtfully negotiate the ubiquitous question, “Do you Believe in Photographs?” The spectral is understood here as a heterogeneous spectrum of meanings, ranging from concretely perceptible phenomena to imaginary, discursive figures of spirit or spectral photography. Berndt’s quote is an alternative title of the Bayside series, which the photographer spontaneously came up with in our interview, along with a number of other titles. The direct address reflects the photographic promise of transcendence as an argument of the Baysiders, but also Berndt's image strategy, which encourages the viewers themselves to think about this essential question that the photographic image has raised since its invention. Cf. Jerry Berndt, in: Sarah Frost, ibid: Interview with Jerry Berndt, Paris 2012, p. 256-273, in: Sarah Frost: “DO YOU BELIEVE IN PHOTOGRAPHS? – Fotografisches Zeigen und Erscheinen in Jerry Berndts Serie The Miraculous Photographs of Bayside”, Braunschweig 2022, p. 271.

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Metadaten
Author:Sarah Frost
URN:urn:nbn:de:gbv:834-opus-2316
URL:https://opus.hbk-bs.de/frontdoor/index/index/docId/231
Referee:Katharina Sykora
Advisor:Victoria von Flemming
Document Type:Doctoral Thesis
Language:deu
Date of Publication (online):01.08.2022
Date of first Publication:01.08.2022
Publishing Institution:Hochschule fuer Bildende Künste Braunschweig
Granting Institution:Hochschule fuer Bildende Künste Braunschweig
Date of final exam:22.06.2022
SWD-Keyword:Bildende Künstler; Geschichte der Photographie
Pagenumber:299
Licence (deu):License LogoCreative Commons - Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen

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